Wie man sich an „Gefangenschaft“ gewöhnt

Wie man sich an „Gefangenschaft“ gewöhnt

Ich hatte kürzlich ein vielsagendes Erlebnis. Ich hörte seltsame Geräusche aus einem Zimmer und dachte zuerst, irgendetwas sei herabgefallen.  Ich fand nichts, hörte aber ab und zu immer ein Geräusch.  Das ging über zwei, drei Tage so. Ich verstand nicht, was dieses Geräusch verursachen könnte.  Nach längerem Suchen und Lauschen entdeckte ich schließlich, was es war: Eine kleine Ringeltaube war auf meinem Balkon in den Spalt zwischen Balkontür und Fenstertür gefallen. Sie hatte wohl versucht, sich durch Flügelschlag zu befreien, was aber angesichts der Enge nicht gelungen war. Nun saß sie da still und verängstigt.
Als ich sie entdeckte, öffnete ich sofort die Fenstertüre und dachte, sie würde auf der Stelle davonfliegen, denn nun war der Weg frei. Doch sie bewegte sich nicht. Ich redete ihr gut zu, versuchte, ihr mit dem Auf- und Zuklappen der Fenstertüre verständlich zu machen, dass sie frei war und davonfliegen konnte. Doch sie rührte sich nicht. Ich begriff schließlich: In ihrem Kopf war „Gefängnis“ gespeichert.
Ich musste sie letztlich tatsächlich physisch anstupsen, immer ein klein wenig mehr, damit sie begriff, dass ihr Gefängnis nicht mehr existierte. Es dauerte eine ganze Weile, bis es endlich zu ihr durchdrang, dass die Gefangenschaft nur in ihrem Kopf existierte.
Ich fand, dass die kleine Ringeltaube auch uns ein wunderbares Beispiel dessen gegeben hat, was wir oft leben: Wie oft glauben wir, in einer Situation gefangen zu sein – nur deshalb, weil diese eine Weile lang in unserem Leben existiert hat.